Zoom

Es gibt keine Ordnung – weder in Kunstsammlungen noch sonstwo. Und doch drängen sich immer wieder rationalisierende, eben ordnende Systeme in den Vordergrund. Ist der eigentliche Anlass, sich mit Kunst zu beschäftigen, ein dionysischer, der reine Genuss, so verkehrt sich dieser Impuls während der Beschäftigung mit den Kunstwerken, den künstlerischen Arbeiten und Prozessen, ins Apollinische, in den Versuch, Erkenntnis zu gewinnen. Selbst wenn die Erkenntnis ausschliesslich subjektive, nicht mehr verallgemeinerbare Erfahrung des Sammlers, des Betrachters, des Künstlers (?) formuliert, in Form bringt: eine Benennung, die fragwürdig bleibt, glücklicherweise.

Denn was und wem nutzt es, wenn man bei einem ersten Blick auf die Sammlung Ketterer, bei einem ersten Rundgang durch die Privat- und Geschäftsräume des Sammlerpaares wie auch durch eine arrangierte, eine Ordnung illusionierende Ausstellung feststellt, dass es in der Sammlung, in den Kunstwerken einen Hang zum Schönen, aber auch zum Schmerzhaften, zum Kostbaren und zum Banalen, zur Ernsthaftigkeit und zum Spielerischen gibt – in Thematik und Material. Nicht viel, oder – es ist doch alles scheinbar?

Sind die Gemälde der Neuen Wilden eine Feier des Daseins, während man in den Werken der jungen, mindestens ebenso wilden Malerin Andrea Nyffeler Zeugnisse eines Weltschmerzes zu erblicken glaubt? Kritisiert die russische Künstlerin Julia Winter die Menschenverachtung ideologischer Systeme oder zelebriert sie das Bild des Schmerzes als lustvollen Augenblick? Formuliert die Künstlerin Marie-Antoinette Chiarenza in ihrer Fotoarbeit ich bin eine frau warum sie nicht? / je suis une femme pourquoi pas vous? Eine feministische Herausforderung oder fordert sie das Urbild schweizerischer Kunst, den Holzfäller von Ferdinand Hodler, zum ästhetischen Duell, ebenso wie Rudolf Steiner sich im Strassenarbeiter als der von der Pinselarbeit heimkommende Begründer der modernen Malerei Paul Cézanne in Szene setzt? Ist Katharina Büches Der letzte Schrei ein ironisches Zitat des berühmten Gemäldes von Edvard Munch, zynischer Verweis auf den Marsyas, dem die griechischen Götter zur Strafe für seinen zur Schau gestellten künstlerischen Ehrgeiz die Haut abgezogen haben, oder doch echte Metapher der Selbsthäutungen der Künstlerin/Frau – ebenso authentisch wie die visuellen, in Mixed-Media realisierten Rollenspiele Franticek Klossners, der seinen Körper zum Symbol unser aller Egozentrik, aber auch Vergänglichkeit werden lässt?

Im Grunde sollten die Kunstgeschichte, die Kunstkritik, die Kunstpädagogik keine Antworten auf die von den Werken gestellten Fragen mehr geben, einfach das vom Werk in die Welt gesetzte Problem, die wesenhafte Identität der Kunst, den im Sinnlichen aufgehobenen Sinn, respektieren – ohne die Formen und ihre Bedeutungen bis ins Unkenntliche zu analysieren. Oder? Das bleibt rhetorisch, die allmählich von der Kunstwissenschaft zur Bildwissenschaft mutierende Disziplin wird immer wieder versuchen, dem ästhetischen Entertainment Sinn zu geben.

Im Rundgang durch die Sammlung Ketterer (selbst im virtuellen) stellen sich, unwillkürlich, in der Betrachtung der Arbeiten, im visuellen Lesen, beharrlich emotionale und intellektuelle Assoziationsketten ein, von der Kunst über die Wirklichkeit hin zum Traum und wieder zurück zur Kunst – oder, je nach individueller Gemütslage auch ganz anders – denn wer weiss, wie das von Costantino Ciervos Schreibmaschine unaufhörlich getippte Wort Terror auf den jeweiligen Hörer wirkt, wie Hammerschläge oder wie eine Botschaft aus einer unverständlich gewordenen Welt? Wirken manche der Videoarbeiten, der Strassenszenen und Möwenflüge Peter Aerschmanns wie Wiederholungen des Alltags oder simulieren sie den Horror, den Hitchcocks Vögel in (fast) jeder Seele auslösen – oder zeigen die Arbeiten in ihrer interaktiven Anlage, wie künstlerische Weltwahrnehmung und ästhetische Prozesse oder allgemeine Erinnerungsprozesse ablaufen? Als würde der Bildatlas von Aby Warburg reaktiviert, das Kompendium der Mnemosyne – Kunst als Ort der vergleichenden, einer vom Visuellen ausgehenden Erinnerung, manchmal verbunden mit dem Geruchssinn wie in der Arbeit ohne Titel von Francisco da Mata.

Anscheinend ist die Sammlung Ketterer auch ein Beleg des aktuellen, ständig aufgeheizten Krisen- beziehungsweise Katastrophenbewusstseins: Individuelle und gesellschaftliche Krisen, die in den Herstellungsprozess der Kunst hineingenommen werden; humane Katastrophen, die in Schönheit verkleidet werden – wie in den fotografischen Arbeiten von Esther van der Bie. Dem ist nur scheinbar so. Denn die Existenz des Kunstwerks widerlegt an sich, für sich genommen, die Unterstellung einer Krise, ist ja Zeichen und Resultat der Überwindung von Stillständen.

Das Leiden an der Welt oder am Ich, das Nachdenken über die Rolle des Subjekts in einer manipulierten Wirklichkeit, mag in einigen Arbeiten der Sammlung zentrales Motiv sein, wie beispielsweise bei den schwarzen Leinwänden Giovanni Manfredinis, den spielerisch-psychologischen Fotografien von Bernhard Huwiler und den ekstatischen Körperwelten der Malerin Renée Magaña, es ist aber niemals Anlass und ausschliessliches Ziel der künstlerischen Tätigkeit – dies ist immer die Kunst selbst. Exemplarisch vorgeführt in den Transformationen von Babette Berger, die Strickereien, Mikadospiele und ähnliches nutzt, um zu prüfen, ob man überhaupt noch malen kann in einer Zeit, zu der das Medium Malerei schon so überholt scheint, dass es bereits wieder funktioniert; ähnliches gilt für die Fotografien Martin Guldimanns, die demonstrieren, dass in den Bildern nicht die Wirklichkeit gezeigt wird, sondern eine von dieser autonome Realität erzeugt wird.

Auch wenn der eigene Körper als Material für das Kunstwerk eingesetzt wird, eben weil er verfügbar und zudem preiswert ist, dann geht es keineswegs um das subjektive Befinden, um Psychogramme oder Abbildungen konkreter Personen, sondern um die Formulierung von differenzierten und differenzierenden Wahrnehmungsangeboten: Man betrachte die in der konzeptionellen Voraussetzung und in der Erscheinung so unterschiedlichen Werke von Andrea Loux und Erik Dettwiler, einmal in den Fotografien von Loux die Visualisierung plastisch-skulpturaler Probleme, im zweiten Fall, der Videoarbeit Levitation von Dettwiler, die Umsetzung von Zeitgefühl in ein optisches Erlebnis. Wobei auch dies nur eine der möglichen Interpretationen ist, denn auch diese Arbeiten sind wie fast alle Werke in der Sammlung Ketterer (oder wie gute Kunstwerke überhaupt) im besten Sinne beziehungsreich und mehrdeutig: unter einer Wahrheit liegt immer eine andere, als hätte ein Maler Schicht um Schicht transparent übereinandergelegt.

Vielleicht ist die Videoarbeit ohne Titel (Heimliches Spiel) des Berner Künstlers Ramon Zürcher in ihrer Hermetik, die im manchen an René Magrittes emotional-intellektuelle Bilderrätsel gemahnt, charakteristisch für die Sammlung Ketterer. Das heimliche Spiel mit Kunst und Geschichte, Emotion und Intellekt, die Überlagerung der Bewusstseinsebenen findet auch statt in den multimedialen Glasgravuren Max Roths und gerade auch in dessen Kooperationen mit Katharina Gusset, wo Kunst Kunst umklammert, verbirgt und doch zur Einheit wird. Ebenso wie in Reto Leibundguts bild- und sinngewordenen Kommentaren zur Moderne, die anschaulich ganze kunsttheoretische Gedankengebäude und liebgewonnene Mystifizierungen auf den Punkt der Ironie zurückführen, möglicherweise auch zum Einsturz bringen – allerdings wiederum erst oder ausschliesslich im Kontext der musealen Präsentation – in einem Raum, in dem Kunst erwartet wird. Der Betrachter kann und soll die vom Kunstwerk dargebotene Information erst würdigen, wenn er weiss (oder ahnt), was kommentiert wird, auf welches Detail der Kunstgeschichte, der Wirklichkeit der Kunst, Bezug genommen wird.

Explizit wird der metakünstlerische Aspekt zum eigentlichen Thema der künstlerischen Tätigkeit in den Arbeiten von Heinrich Gartentor und Adela Picón. Der von Schweizer Kunstinteressierten gewählte erste Kulturminister der Schweiz, Gartentor, nimmt dieses Amt, das in der eidgenössischen Politik nicht existiert, das ausschliesslich im fiktionalen Raum der Kunst gegenwärtig ist, durchaus ernst – und bezieht selbst-bestimmt öffentlich Stellung zu den verschiedensten Gesichtspunkten und Problemen in der Kulturpolitik des Landes; gleichzeitig verhandelt er in seinen anderen (eigentlichen?) Arbeiten – Installationen, Videoarbeiten, performanceartige Inszenierungen usw. – Kunst als Instrument, als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Transformation, so im in Thun und Biel aufgebauten Golfplatz, einer aktualisierten, mit neuer Energie geladenen und auch etwas ironisierter Visualisierung des Slogans der 1968er: Unter dem Pflaster – Der Strand.

Picóns multimediale Installation Venta (Auktion) kann sowohl im Biographischen wie in der künstlerisch vieldeutigen Aussage als Schlüsselwerk der Sammlung Ketterer bezeichnet werden. Sie ist ein Verweis auf die Herkunft Günther Ketterers, die Verbindung der beiden Sammler zum Kunsthandel (weil dieser Zusammenhang thematisiert wird, ist es auch ein mutiger, selbstironischer Ankauf) und im gleichen Moment ist Venta ein vielschichtiger Kommentar zu den (Un-) Möglichkeiten, dem einzelnen Kunstwerk gerecht zu werden – sowohl in der Interpretation des Gehaltes wie auch in der Festsetzung eines materiellen oder ideellen Wertes. Vor allem, wenn man sich auf scheinbar objektive, von Medien, Kritikern usw. verbreitete Kriterien verlässt, verlassen will, dem eigenen Auge und der persönlichen Intuition nicht traut, sozusagen das Bezeichnete mit dem zu Bezeichnenden verwechselt – eine Falle, in die Carola und Günther Ketterer-Ertle nicht geraten, weil sie ausdrücklich das eigene (Erkenntnis-) Interesse als Massstab ihrer Kunstschätzung, des Aufbaus einer Sammlung, nutzen.




top