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Aus den Erfahrungen der 1980er Jahre, der Auseinandersetzung mit politischen Fragen wie des nuklearen Wettrüstens zwischen UDSSR und USA (mit den bekannten Folgen für das potentielle Schlachtfeld Europa), des Schocks des atomaren Gaus in Tschernobyl, aber eben auch des nihilistisch angehauchten Existentialismus der Jungen Wilden resultiert möglicherweise das andauernde Interesse der Sammler, die sich noch heute nicht ausschliesslich auf dem kulturellen, sondern auch auf dem ökologisch-ökonomischen Feld engagieren, an einer Kunst, welche die menschliche Figur, die humanistische Weltwahrnehmung, die humane Erfahrungswelt als zentrales Motiv beziehungsweise als Richtschnur des ästhetischen Handels begreift und darstellt.

Allerdings widmen sich Carola und Günther Ketterer-Ertle ab 2000 nicht mehr einem homogenen Sammelgebiet wie jenem der doch sehr einheitlichen Berliner Kunstszene um 1980/90, sondern richten ihren Blick, zwar sicherlich ausgehend vom lokalen Kunstgeschehen und angeregt von den heftigen Diskussionen um ein Museum für Gegenwartskunst in Bern, auf die individuellen, auf die vielförmigen Positionen des heutigen Kunstschaffens. Gleichzeitig haben sie eine Plattform im Internet geschaffen, die – ohne kommerziell zu sein – ein Forum für Kunst sein soll: www.videokunst.ch.

Manchmal kann man in Bezug auf die in der Sammlung Ketterer vertretenen KünstlerInnen gar von Solitären, Grenzgängern oder Aussenseitern sprechen, die sich keinem Genre, keinem Trend zuordnen lassen – eine Frage der persönlichen Vorlieben der Sammler, ein Charakteristikum der Epoche oder doch Ausdruck der im europäischen und globalen Kontext sehr individualistisch, sehr eigenwillig erscheinenden zeitgenössischen Schweizer Kunst, deren Leitfiguren wie Dieter Roth, Roman Signer, Meret Oppenheim, André Thomkins, Fischli & Weiss, um nur einige zu nennen, sich jeder kunstkritisch vereinfachenden Klassifikation entzogen haben, entziehen und anscheinend weiterhin entziehen werden?

Gleiches gilt für die Kunstgattungen. Stand am Ursprung der Sammlung die mehr oder weniger traditionelle Malerei, das Tafelbild, so öffneten die Sammler ihr Sammelwerk nun allen Bereichen aktuellen bildkünstlerischen Handelns: Malerei, Skulptur, Zeichnung, Graphik, Objektkunst, Installation, konzeptuelle Chiffre, Kontextkunst, Performance, Interaktion, Fotografie, Video, Neue Medien usw. stehen nebeneinander, überkreuzen sich, vereinigen sich zu einer Anthologie, welche die gegenwärtige Situation in der Kunst, nämlich die Weigerung der KünstlerInnen, eindeutigen Klischees, Stilghettos oder kunsttheoretischen Definitionen zu folgen, angemessen reflektiert – begrenzt zwar auf das regionale und soziale Umfeld der Sammler, aber dennoch signifikant für die Entwicklungen in der Kunstwelt: repräsentativ für eine Zeit, ohne gleich – wie in anderen Sammlungen, die kulturelle Hegemonie anstreben, üblich – verbindliche Weltgeltung zu behaupten, hingegen durchaus Relevanz für unser Wirklichkeitsverständnis, jenseits aller political or aesthetic correctness.

Und doch kann man in der Sammlung trotz aller Heterogenität der Erscheinungsformen der Kunst mehrere rote Fäden erkennen, von denen an dieser Stelle nur ein essentieller hervorgehoben werden soll: die Beschäftigung mit Identität und Authentizität von Kunst und Leben, reflektiert in der künstlerischen Persona und dem Kunstwerk selbst – und manchmal auch der Angst davor, vor der Kunst, dem Leben und der Reflektion.



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